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Brandenburger Märchen

Brandenburger Märchen

Eine zweijährige Spurensuche zur T4-Aktion in Brandenburg a. d. H., bei der 1940 mehr als 9.000 kranke und behinderte Menschen vergast und verbrannt wurden. Die Frage war: Was haben die Brandenburger*innen von den Geschehnissen mitbekommen, die teilweise mitten in ihrer Stadt am Nicolaiplatz stattfanden? Und: wie hat dieses Miterleben ihre Leben beeinflusst und geprägt?Aus Interviews mit über 150 Menschen entstand das Theaterstück „Brandenburger Märchen“ - ein Einblick in die kollektive Erinnerung der Stadt.

Regie: Reimund Groß
Schauspiel: Gernot Frischling, Jenny Boettcher, Marlene Schultke, Reimund Groß, Sebastian „Hotte“ Ihlenfeldt
Idee, Recherche, Text und Produktion: Daniela Klein
Scherenschnitte: Nina Braun
Akkordeon und Komposition: Bardo Henning
Licht: Arndt Sellentin
Grafik: George Chandrinos
Projektleitung: Katrin Werlich

Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=8rPVBfZ_TfY&t=38s

Ein Projekt des Kulturvereins Päwesin e. V.

Förderer und Kooperationspartner: Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde in Brandenburg an der Havel, Haus der Offiziere, Brandenburger Theater, GeDenkOrt Charité, Spartacus, Landeshauptstadt Potsdam

Nahtloser Übergang

Basierend auf Zeitzeugengesprächen und dokumentarischer Recherche erzählt die Trilogie Nahtloser Übergang von den vielen Schichten der Vergangenheit unter den Feldern, in den Dörfern und Städten des Havellands: von den mit Hausmüll gefüllten Tonlöchern um Päwesin; vom Niedergang des Adels zur Privatisierung der LPG in Roskow, und den zubetonierten Spuren des Lynchmords an Wilhelm Hagedorn in Rathenow.

Aufgeführt mit Schauspieler Reimund Groß als Theaterstück im Bauwagen - das wohl kleinste Theater Brandenburgs zum Päwesiner Kunst und Kulturfest, Rohkunstbau XIX und XX in Roskow, Heimwerts Kleinkunst Festival Brandenburg und in Ribbeck.

Nahtloser Übergang: Geh ran an das Schwein, Horst. Geh ran!

Nahtloser Übergang: Teil I

Päwesin: Geh ran an das Schwein, Horst. Geh ran!

Auszug:

Im Bus durch die havelländischen Felder schweifend, komme ich mir manchmal vor wie der Bleistift eines vor sich hin dösenden Schülers, der endlose Kreise auf dem Papier beschreibt, ohne ein erkennbares Ziel zu haben. Weiß der Fahrer überhaupt noch, dass ich dabei bin? Im Dunkeln sind die Haltestellen leicht zu übersehen, so dass der Fahrer in voller Fahrt, oder träumend wie ich, vereinzelte im Windfang kauernde Reisewillige übersieht, die hochgeschreckt im Scheinwerferlicht wild mit den Armen fuchteln wie Räuber aus der Hecke.

Leer ist dieses Land. Weggeschwemmt seine Menschen, seine Lebendigkeit. Eine dem Wind und der Agrarindustrie überlassene Ebene wie an der Küste Ost-Englands, wo ich aufgewachsen bin. Der Hof gegenüber steht leer seit dem Tod eines vereinsamten, dem Alkohol verfallenen Karnickelzüchters und der in einer anderen Einzimmerwohnung ebenfalls vereinsamten Frau eines ehemaligen Bürgermeisters, abgestellt wie Schachfiguren. Im Winter sieht man wie der Regen in die Zimmer tropft. Vor dem Haus ist eine kleine Glaskabine angebracht, in der man Zug spielen könnte, ein Puppentheater oder öffentliches Verhör veranstalten. Es ist das Haus des ehemaligen Gendarmen. Eigentümer des Grundstücks ist ein gewisser Herr Fuchs aus Berlin, der gelegentlich in einer schwarzen Limousine erscheint, um sich von seinem Besitz zu überzeugen. Sonst dürfen nur ein paar scheue Einwohner mit kleinen Gurkentöpfen vorsichtig das Törchen öffnen und sofort wieder verschließen. Den verwilderten Garten stören sie nicht. Ich persönlich bin ihm dankbar. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dort frisches Leben Einzug hielte und die dunklen Spiegel, die offenen Räume zerstörte, die Fragen und Ungewissheiten unverstanden sich verschließen. Ich bin noch nicht fertig, würde ich protestieren. Ich bin noch nicht fertig!

Nahtloser Übergang: Der Palast der Republik steht gleich hinterm Schloss.

Nahtloser Übergang: Teil II

Roskow: Der Palast der Republik steht gleich hinterm Schloss.

Auszug:

...Vor einigen Wochen bin ich, auch im Zuge dieser Recherchen, einer Frau in einem Altersheim in Rathenow begegnet, die, gebückt in ihrem Sessel, immerfort seufzend in einem auseinanderfallenden Album blätterte, Fotografien ihrer Kinderstube, von Weihnachten mit einem Äffchen auf dem Schoß, lachenden Männern in Uniform, Dampferfahrten und Nachmittagen in der Laube. Dazwischen sind viele Seiten leer. Die Bilder fehlen schon seit Jahren, sagte sie. Das Album wurde ihr ein paar Monate nach der fast völligen Zerstörung der Stadt von ehemaligen Nachbarn gebracht, die es auf der Straße zwischen den Trümmern gefunden hatten und die Familie auf den Bildern erkannten.

Die verbliebenen Geschichten des letzten Schlossherrn von Roskow und der darauf folgenden Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft haben eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Album, einzelne Bilder zwischen vielen leeren Seiten, und was auf diesen mal zu sehen war, kann man nur erahnen. Aber je näher zur Gegenwart, desto leerer sind die Seiten.

WIE SCHLÄFT ES SICH UNTER EINEM DACH BRÜLLENDER RITTER, DIE MÄULER WEIT AUFGERISSEN WIE FLEDERMAUSHÖHLEN, NACH LUFT ODER BEUTE SCHNAPPEND?

Atemlos zuschauen mussten sie von ihrem hohen Sitz, wie innerhalb kürzester Zeit die von Schulden überhäuften Familienbesitze in Vieritz, Marquede und Buckow versteigert wurden, und der ehemalige Herr von insgesamt 2643 Hektar sich auf Roskow zurückzog, das ihm einzig verbliebene Gut. Auch hier machte der Verfall keinen Halt; ein Zwangsverwalter wurde eingesetzt, seine Frau verließ ihn und er lebte in zunehmender Abgeschiedenheit mit seiner greisen Mutter, zwei kleinen Söhnen und einem alten Diener auf dem Schloss. Im Dorf brachte ihm sein herrisches Gebaren angesichts der öffentlichen Pleite und wirtschaftlichen Unzulänglichkeit mehr Spott als Ehre, und als er eines Tages nicht mehr da war, hat man es kaum bemerkt.

Doch schon viele Jahre vorher hätte ein gemeiner Skeptiker an der Schlossfassade einiges entdecken können, das, in Stein gemeißelt, den Verlauf des Schicksals anzudeuten scheint. An der Hofseite schauen links und rechts der Eingangstüre zwei senile Löwen mit wässrigen Augen aus dem Gemäuer heraus, ihr scharfes Fauchen längst einem Gähnen gewichen. Weiter oben, knapp unter den von Prunkjahren lärmenden Rittern auf der Balustrade, sehen wir das bleiche Antlitz eines kleinen, ängstlich hinter einem Helm kauernden Tieres, ein zur Mausgestalt geschrumpftes Katerchen, ein Blick der Verzweiflung im Gesicht.

Nahtloser Übergang: Die Vergangenheit ist abgehakt.

Nahtloser Übergang: Teil III

Rathenow: Die Vergangenheit ist abgehakt.

Auszug:

…Der Friedhof in Rathenow ist auf dem Weinberg gelegen, ein weitläufiger, grüner Hügel, der sich an der südwestlichen Seite wie ein Schiff zu einem Ausblickpunkt verengt, von dem ein vier-Meter-hoher Bismarck über Felder und Wälder Ausschau hielt, bis er 1942, wie die meisten Kirchenglocken und metallenen Gegenstände aller Art, zu Rüstungszwecken eingeschmolzen wurde.

Am Fuß des Hügels ist ein gelbes Torhaus, in dem eine kleine Bibliothek eingerichtet wurde. Der Weg führt, zwischen hohen dunklen Bäumen und vielen Steintreppen mit christlicher Logik zu der Auferstehungskirche hinauf. Rings herum, auf allen möglichen, terrassenartigen Ebenen, liegen die Guten und die Schlechten nebeneinander, verwachsen mit Moos, Efeu und schillernden Blausternen, die sich wie ein Mantel der Vergebung über alle Gräber ausbreiten, da vielleicht das endgültige Urteil über sämtliche Leben und Werke einvernehmlich einer höheren Instanz überlassen wurde, und sonst Wind, Wetter und grüne Triebe das ihre tun.

Der weltliche Friedhof ist von den wirren Wegen des Glaubens sauber abgetrennt, und mit kleinen Hecken überschaubar angelegt. Hier wird die Vergangenheit in Form der Namen und Steine nach zwanzig Jahren spurlos entsorgt, was dazu führt, dass in diesem Teil des Friedhofs kaum etwas zu sehen ist. Allein der Ehrenhain ist von dieser Regel ausgenommen. Dort stehen unvergessen seit den frühen Nachkriegsjahren die Helden des Widerstands und der jungen Sozialistischen Republik.

Nur ein Stein – der Stein von Wilhelm Hagedorn – den man trotz polizeilicher Bewachung immer wieder zum Jahrestag seiner Ermordung umgestoßen auffand, wurde 1997 aus dem Ehrenhain entfernt. Jetzt steht er in einer Garage der Friedhofsverwaltung, mit dem Gesicht zur Wand.

Ein Projekt des Kulturvereins Päwesin e. V.
Gefördert von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung

 

Zitate

Daniela Klein (Zitate aus Zeitzeugengesprächen), Nina Braun (Artwork), Anita Reinsch (Fotos)

 

Portraits

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